Die andere Traumfabrik

Fünf Künstler leben gesund und illegal in einer Etage im Hafenviertel von Brooklyn

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Ein Morgen in einer illegal bewohnten Fabriketage im Nordwesten Brooklyns. Hinter den Fenstern auf der Westseite zeichnet sich unter einem gelblichen Himmel die kühle, glitzernde Skyline Manhattans ab. Dies ist der authentischere Teil von Brooklyn – im Unterschied zum hippen und kommerziellen Williamsburg. Parkslope grenzt direkt an das Hafengebiet von Red Hook, das sich zu einem Zentrum für Künstler und Kunstgaleristen entwickelt hat. Man kann auf dem Bürgersteig auch mal in eine Öllache tappen und wird nachts vom Rangieren riesiger Trucks geweckt. Leer stehende Industriegebäude und alte Hafenanlagen sorgen für Industrieromantik.

Die Galerie im ersten Stock einer 100 Jahre alten Fabrik aus rotem Backstein wirkt unfertig und roh. Von der ursprünglichen Fabriketage sind nur die Holzbalken und das Parkett erhalten. Das Strom- und Wassersystem, das sich entlang der Decken in einem chaotischen Gewirr erstreckt, wurde von den Bewohnern selbst installiert. Bunte Neonröhren summen beständig vor sich hin, und ein riesiger Cola-Automat brummt in Intervallen. Der Geruch von Ölfarbe und frisch verarbeitetem Holz liegt über dem 300 Quadratmeter großen Galerieraum, in dem große Ölbilder hängen. Die Galerie ist gleichzeitig Wohnzimmer, Küche und Lebensmittelpunkt der Künstler.

Jimmy ist gerade aufgestanden und macht sich sein Frühstück in der Mikrowelle warm. Er ist 24 Jahre alt und erklärt: »Meine Familie gehört zu den 13 ersten Familien, die Florida bewohnt haben.« Und die Native Americans? Mit ihnen hätten sie sich gut verstanden, sein Ururgroßvater habe sogar eine Cherokee geheiratet. Aber da hat es doch auch sicher Konflikte gegeben, während der Vertreibung und Ghettosierung der Natives? Jimmy fährt sich durch seine hoch aufstehenden Haare: »Ich muss zugeben, darüber weiß ich nichts.« Er trägt einen schwarzen Overall mit Fellkragen und hat einen Oberlippenbart. Bärte sind jetzt wieder angesagt, wie die New York Times in der vorigen Woche festgestellt hat. Eine Rückkehr zu purer Männlichkeit, weg von den metrosexuellen, glatten Milchgesichtern. Im Trendsetter-Magazin Alife gewinnt John Wayne einen »Coolness«-Wettbewerb gegen einen nassen Levi’s-Cowboy unter der Dusche. Die Aussage ist klar: Zurück zu authentischer Männlichkeit.

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Abends sitzt Jimmy in seinem Zimmer auf dem Boden, hält ein Mikrofon an einen alten Kofferplattenspieler, auf dem klassische Musik in Slowmotion läuft, und spielt dabei so lange an einem Verzerrer herum, bis eine Rückkopplung entsteht. Diese Geräusche nimmt er auf einem Kassettenrecorder auf. Was er mit ihnen machen will? Als Untermalung für einen subversiven Film benutzen. Der Filmstudent bewirbt sich gerade beim Whitney Museum of American Art um ein Atelier. Vollgestopft mit unzähligen technischen Geräten, Farbtöpfen und Bastelutensilien, gleicht sein Zimmer mehr einem Arbeits- als einem Schlafzimmer. In einem Metallregal stehen Sachbücher über Computer und Technik, daneben Märchen von den Eskimos, »Wind in the Willows« von Kenneth Graham ist das einzige belletristische Buch in der Sammlung.

Jimmy hat für den Mystery-Thriller »Der Manchurian-Kandidat« (2004), gedreht von Regisseur Jonathan Demme (»Das Schweigen der Lämmer«), die düsteren Zeichnungen eines Psychos kreiert, dessen Spuren Denzel Washington verfolgt. Die bizarren Kunstwerke, albtraumartige Zeichnungen eines Kriegstraumatisierten mit lauter Toten und sehr viel Blut, sind zentral für den Film und führen am Ende zur Auflösung des Geschehens. »Ich wollte weniger Kunstwerke produzieren, sondern eher eine Karte, die den Weg in den Wahnsinn aufzeigt«, sagt Jimmy, der außerdem das Making-of des Neil-Young-Films »Heart of Gold« (2005) gedreht hat.

Er ernährt sich gesund, kocht Reis mit Hühnchen und gedünsteten Broccoli. Danach nimmt er drei Vitaminpillen. »Ich glaube, die Vitamine aus Obst und Gemüse alleine bringen nichts.« Er wohnt hier, weil er mit dem ehemaligen Freund von Ilene an der New Yorker Kunsthochschule studiert hat.

Ilene ist die gute Seele der Fabriketage. Alle, die hier wohnen, stehen in irgendeiner Verbindung zu ihr. Schwarze Locken umrahmen ihr kalkweißes Gesicht. Sie hat giftgrüne Augen, die sie mit viel schwarzem Kajal umrandet. Vor zehn Jahren hat sie angefangen, mit Granit, Mamor und Steinen zu handeln. Inzwischen kann sie sich diese Etage und einen Ausstellungsraum in Manhattan leisten. »Ich hatte schon mit acht Jahren mein erstes Geschäft«, sagt die 53jährige, die wie Mitte 30 aussieht und genauso unverkrampft auf dem Sofa sitzt und kifft wie ihre 27jährige Geschäftspartnerin Ally. Ihr vertraut Ilene blind. Ally erledigt das Geschäftliche. Ilene versteht den Handel mit Steinen als künstlerisches Projekt, das Küchen und Wohnzimmer kreativ umgestaltet.

Ihre Ideen sind auch in der Fabriketage sichtbar: Die Küchenanrichte ist aus graugrün-meliertem Granit. Die Schränke und Wände sind mit bunten Mosaiksteinen gekachelt, überall hängen Fotos aus alten Kochbüchern. Ilene sammelt Designstücke aus den fünfziger Jahren. Ledersessel, Stühle, Sofas, Vasen und Lampen und Beistelltische stehen im Wohnzimmer der Fabriketage.

Von ihrer acht Meter langen Python, die sie mal als Haustier hielt, hat sich Ilene mittlerweile getrennt. Sie wuchs in Atlantic City auf. Mit vier Jahren packte sie das erste Mal ihre Sachen, um von zuhause auszuziehen: »Ich packte sieben Paar Socken und ein paar Sachen in einen Koffer und ging zu dem leer stehenden Haus an der Ecke, um dort zu leben.« Mit 14 zog sie ein zweites Mal aus, kam nur noch einmal mit 18 wieder, um ihren Collegeabschluss zu machen. Sie arbeitete in einer Firma, die mit Steinen handelte, und gründete bald ihr eigenes Geschäft. Mit 34 heiratete sie einen 18jährigen Marine, mit dem sie acht Jahre verheiratet war. Sie sagt: »Ich mag Bush nicht. Aber ich mag Amerika. Denn, wer ist zuerst da, wenn irgendwo auf der Welt Hilfe benötigt wird? Die amerikanische Armee. Wir leeren gern unsere Geldbörsen für andere. Das mag ich an Amerika.«

Ihr kleiner Dobermann-Pinscher heißt Napoleon. »Er ist mein vierter Mann. Ich habe noch nie einen Mann so geliebt wie ihn«, sagt sie mit ernster Miene. Für den Hund häkelt sie Überzieher mit Neonstreifen oder Totenkopfmuster. Ein Regal ist bis unter die Decke gefüllt mit Wolle in 340 unterschiedlichen Farbtönen. Davor steht ein überlebensgroßes Ölgemälde von Jimi Hendrix.

Ilene hat eine auffällige Lücke zwischen den Vorderzähnen, die sie korrigieren lassen möchte. »Die ist erst jetzt in den letzten Jahren entstanden. Genauso wie die Falten um meinen Mund, aber ich werde mich einfach liften lassen.« Sie lässt ein kehliges, aber mädchenhaftes Lachen vernehmen und zieht ihre Gesichtshaut mit den Händen an die Ohren. »So sieht’s doch viel besser aus!« Sie ist Jüdin, erzählt Witze über Juden und lacht darüber, wie konsterniert die Menschen in Deutschland darauf reagiert haben. »Ich habe dort immer gesagt, ich bin eine heterosexuelle Kapitalistin, so what?«

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Dylan, 35, kennt Ilene schon seit zehn Jahren und hat mit ihr zusammen im Norden von New York gewohnt. Er war gerade auf Tour mit seiner Band Mice Parade, in der er Vibraphon spielt. Drei Wochen spielten sie an der Westküste, Ohio, Chicago, in Honululu und außer in Tokio noch in zwei weiteren Städten in Japan. Dylan besitzt über 10000 Schallplatten. Er legt in Clubs auf, verdient sein Geld mit Gärtnern: »Ich würde lieber nur Musik machen und davon leben, aber das ist hart in New York.« Auf einem Konzert während der letzten Tour hat er »die Liebe seines Lebens« getroffen, eine Frau von der Westküste. Um die Entfernung eines ganzen Kontinents zu überbrücken, planen sie, zusammen in eine Stadt zu ziehen, aber nicht nach New York.

Pat ist der Freund von Ally, der Geschäftspartnerin von Ilene. Er hat tätowierte Arme, einen schmalen Oberlippenbart und trägt zumeist ärmellose T-Shirts. Vorige Woche wollte ihn eine 25jährige Frau verklagen. Sein Hund Curtes, ein Chowchow aus dem Tierheim, hat die Frau gebissen, als sie ihm seinen Ball wegnehmen wollte. »Es war ihre eigene Schuld. Aber das ist die amerikanische Art, andere für die eigene Dummheit verantwortlich zu machen«, sagt Pat. Er spielt Bass in einer Rockband und arbeitet am Wochenende in einer Rockkneipe in Brooklyn. Dort bekommt er zwar nur zehn Dollar pro Stunde, macht aber wegen des Trinkgelds pro Nacht einen Gewinn von 600 Dollar.

In der Kneipe »The Gates« hängt über dem Tresen eine Peace-Fahne: »We the people don’t want the Bush agenda!« Auch ein Aufkleber ist dort angebracht: »George Bush Junior isn’t able to use a laundromat!« Pat versucht die widersprüchlichen Ansichten zum Irak-Krieg zu erklären: »Das Bizarre an diesem Krieg ist, dass es so offensichtlich ist, warum sie da unten sind. Aus geschäftlichem Interesse. Jeder weiß das hier, aber niemand reagiert darauf.« Ilene erklärt dagegen: »Unsere Regierung führt einen Krieg. Wenn man sie kritisieren würde, wäre das Verrat.«

Pat verdient sein Geld zusätzlich mit Tischlerarbeiten, er fertigt Rahmen an. Sein Zimmer gleicht einer Tischlerei. Holzspäne sind auf dem Boden verteilt. In der Mitte der Galerie hat er ein Podest aufgebaut, auf dem er einen riesigen Rahmen baut: die Größenabmessung für die amerikanische Flagge. Es ist eine Auftragsarbeit für eine Rockerkneipe von einem Freund von ihm. Dessen Vater war im Irak-Krieg als Soldat und wurde getötet. Er will die Fahne, die auf dem Sarg seines Vaters mitgeschickt wurde, in der Kneipe aufhängen.

Im Zimmer von Ally leben vier Wasserschildkröten in einem Aquarium, zwei Katzen und ein Labrador namens Naven. Ally sammelt Schaufensterpuppen. Zwei kopflose Plastikkörper baumeln an der Decke. Das Verhältnis zu ihrer Geschäftspartnerin beschreibt Ilene wie das zu ihrer jüngeren Schwester: »Sie managt alles. Ich schicke sie vor und achte nur darauf, dass alle am Leben bleiben.«

Der Berliner Künstler Jim Avignon wird am Wochenende hier eine Ausstellung eröffnen, er plant eine Party und eine Performance seiner Ein-Mann-Band Neoangin. Es soll seine Willkommensparty in New York sein. Nach 15 Jahren Berlin brauchte er mal »einen Tapetenwechsel«: »Ich bin ein Kind der Neunziger, und die sind abgelaufen in Berlin. Evolutionär gesehen, brauche ich eine neue Entwicklungsstufe, und die ist New York. Naja, und außerdem hab’ ich mich hier verliebt.«

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