Die grünen Giganten

In Umfragen erreicht die Partei Spitzenwerte und zieht sogar mit der SPD gleich. Historisch einmalig. Woher kommt der grüne Boom? Wer verstehen will, woher die Grünen kommen, findet Antworten in einem Berliner Kiez, im Baumarkt und bei Steffi Lemke

Warum sind die Grünen plötzlich so beliebt? Eine Antwort auf die Frage findet man vielleicht in Berlin-Neukölln, im Reuterkiez. An der Grenze zu Kreuzberg wird der Kiez „Kreuzkölln“ genannt. Hier eröffnen ständig neue Kneipen, die Zuzugsquote ist hoch. Hier erreichen die Grünen die meisten Wähler von Berlin. In den beiden Wahllokalen gaben bei der Bundestagswahl 2009 insgesamt 45 Prozent ihre Zweitstimme den Grünen. Am Abend vor der großen Anti-Atom-Demonstration sammeln sich die ersten welken Blätter auf den Klappliegestühlen vor dem „Major Grubert“, eine der dort neu aufgemachten Kneipen im obligatorischen Sperrmüllschick. Hinter den beschlagenen Scheiben hat Anja Kofbinger, Direktkandidatin der Grünen Neukölln, zu einer Diskussion geladen. Es geht um die Mietenentwicklung. Denn der Reuter- und der benachbarte Graefekiez haben ein Gentrifizierungsproblem. Die Mieten werden immer teurer. Rund vierzig Interessierte jeglichen Alterns drängeln sich auf Höckerchen um Anja Kofbinger. „Es ist schon sehr bitter, dass es hier Menschen gibt, die ihren Kiez verlassen müssen, nur weil sie Hartz IV beziehen und sich die Miete nicht mehr leisten können.“ Fast simultan nicken zwei blonde Mitzwanzigerinnen.

Die Sympathisanten

Im Vorlesungsmodus lauschen die Zuhörer den Ausführungen des Berliner Mietervereins über die Mietproblematik im Reuterkiez, „dem Gebiet mit den höchsten Neuvertragsmieten“. Es geht um „Wanderungsprozesse“ und „positive Haushaltsentwicklung“ sowie um juristische Finessen, sich zu wehren. Zu späterer Stunde herrscht zunehmende Einigkeit. Die Grünen haben für die meisten hier den wunden Punkt getroffen: Vor allem die horrenden und steigenden Nebenkosten sind schuld. Es betrifft nicht mehr nur Hartz-IV-Empfänger, sondern auch prekär beschäftigte Kreative. Oder Familien mit Migrationshintergrund, die ihr eigenes Geschäft haben, aber mit den Einnahmen kaum über die Runden kommen. Weniger Wohnungsfluktuation wäre besser. So geht es nicht weiter.

Irgendwann sind die Argumente ausgetauscht und das Bier getrunken. Auch Lena, 25, und Laura, 26, haben genug gehört. Lena bekennt: „Ich habe auch mal grün gewählt. Aber wir sind doch Jusos.“ Sie hat Laura zur der Veranstaltung begeleitet, weil die mit zu erhöhten Nebenkosten zu kämpfen hat: „Ich finde es gut, dass die Grünen so eine Veranstaltung machen.“ Aber Grünen-Veranstaltungen gut finden, heißt noch nicht grün wählen – was treibt die Grünen-Wähler um?

Der hadernde Hedonist

Samstagnachmittag. Während die große Anti-Atom-Demo durch Berlin zieht, herrscht 1.000 Meter entfernt vom „Major Gruber“ auch reger Betrieb im Baumarkt am Neuköllner Hermannplatz. Dort wo sich Bastler und Autofrickler, Kleingärtner und „Schöner-Wohnen“-Abonnenten versorgen, soll auch einer der Orte sein, wo man vornehmlich Grünen-Wähler trifft. Volltreffer. Justus (Name geändert), 33, dandyhafter Jude-Law-Verschnitt mit abgewetzten Budapester Schuhen, schlendert suchend die Regalreihe mit Holzölen ab, in der Hand zwei Scharniere: „Ich wähle immer grün. Wegen Anti-Atomkraft und weil ich grün sozialisiert bin. Ich kann mir aber auch vorstellen, mal CSU zu wählen.“

Er wohnt im Graefekiez und beschreibt seinen Lebensstil als undogmatisch: „Das wird dann auch immer mal gerne als Hedonismus beschimpft. Dass ich mich eher um meine eigenen Präferenzen kümmere.“ An diesem Tag kümmert er sich um Holzöl, um die alte Vitrine seiner Großmutter aufzuarbeiten – statt zur Anti-Atom-Demo zu gehen. Er sieht sich alten Werten verpflichtet. „Unbedingt!“ Er lacht und fügt entschuldigend hinzu: „Ostwestfälischer Landadel.“ Der Marketing-Student, der freiberuflich nebenher arbeitet, fährt kein Auto, weil er keinen Führerschein gemacht hat. Dafür hat er einen Sportmotorbootschein, für die Tour über die Müritz. „Mit Energiesparen bin ich nicht besonders gut“, gibt er zu. Er trennt keinen Müll und kauft bei Edeka ein. Gutes Fleisch ist im wichtig: „Ich habe einen tollen Halal-Fleischer. Da kostet ein Rumpsteak ein Achtel von dem im Biomarkt. Aber mir ist bewusst, wenn ich das neue Buch über Vegetarismus gelesen hätte, dürfte ich das nicht machen.“

Das wichtigste für ihn ist seine persönliche Freiheit – und ein Laguiole-Taschenmesser, das ihm sein Vater vor zwanzig Jahren geschenkt hat. Die Zugehörigkeit zur Toscana-Fraktion, hält er für eine Beleidigung. Er legt Wert auf die Unterschiede zwischen ihm und den zugezogenen Prenzlauer-Berg-Bewohnern samt Latte-Macciato-Müttern und den Kreativen. „Ich kann mit dieser Selbstverwirklichungsideologie nichts anfangen.“

Weiter entfernt von dem Klischee-Grünen-Wähler mit Fusselbart, Müsli-Frühstück und Ökolatschen kann man nicht sein – dennoch: Wenn morgen Wahl wäre, würde Justus grün wählen: „Was denn sonst? Die SPD will zurück in den 70er Jahre Wohlstand und heiratet die Gewerkschaften. Die CDU ist einfach nicht wählbar, die Linken kann ich nicht ganz erst nehmen, die FDP nicht leiden. Da sind die Grünen das kleinste aller Übel.“

In der letzten Woche hatten die Grünen erstmals seit 12 Jahren wieder die Grenze von 50.000 Mitgliedern überschritten. Warum sind die Grünen gerade so beliebt?

Die Neumitglieder

Eine Frage für Steffi Lemke. Sie ist die politische Bundesgeschäftsführerin der Grünen und hat die Frage beantworten lassen: Mit einer Onlinebefragung unter den Neumitgliedern. „Am wichtigsten sind ihnen Klimaschutz und Ökologie, soziale Gerechtigkeit und eine andere Bildungspolitik.“ Laut der Umfrage ist der Neuwähler der Grünen im Durchschnitt neun Jahre jünger als der Durchschnitt der jetzigen Partei. „Es sind nicht vollkommen neue Schichten, die zu uns kommen, sondern Menschen, die schon lange ihr Leben grün denken und die Grünen für ihr konstantes Wertebewusstsein schätzen.“ Diese Eintrittswelle bekommen vor allem auch die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg zu spüren.

Dienstagabend am Kottbusser Tor. Die Tische vor dem türkischen Café Simitçi sind voll – drinnen im Neonlicht ausgestrahlten Raum herrscht noch Leere. Hier soll der Stammtisch der Grünen Neumitglieder von Kreuzberg-Friedrichshain stattfinden, doch es warten erst zwei Journalisten am Tresen. Als Heidi Kosche, direkt gewählte Kreuzberger Grünen-Abgeordnete im Abgeordnetenhaus, mit den ersten Neumitgliedern eintrifft, steht ein weiterer Journalist mit gezückter Visitenkarte bereit. „Bei uns ist es ein guter Brauch, dass die Neumitglieder sagen können, ob sie etwas dagegen haben, dass die Presse dabei ist“, sagt Kosche freundlich beschwichtigend – niemand protestiert. Heidi Kosche sagt: „Der Zulauf, den wir im Moment haben, ist sogar für uns ungewöhnlich. Wir haben hier sonst einen kontinuierlichen Zugang und der Boom ist eher nach der Wahl.“

Nach und nach stellen sich die über zehn anwesenden Neumitglieder vor und nennen ihre Gründe und Motivation. „Von der Politik, die läuft, haben viele den Kanal voll“, sagt Michael Kaiser, 49, aus Alt-Treptow. Der Hausmann mit zwei Söhnen war sonst Wechselwähler und engagiert bei Greenpeace und einem Kinderbauernhof. „Ich bin hier, weil ich mithelfen will, Schwarz-Gelb abzuwählen.“ Natürlich war er auf der Anti-Atom-Demo am Samstag. „Ich dachte, wow! Du kommst aber nicht weiter, wenn du nicht selbst engagierst.“

Mathis Preiser, 31, hat Hochschulpolitik gemacht und ist zwar seit 11 Jahren schon bei den Grünen, aber schon länger nicht mehr aktiv. Doch dann regte ihn der Atombeschluss auf, erzählt der Mann in Jacket und blauem Hemd. Nach vier Jahren als Unternehmensberater fehlte ihm Sinnhaftigkeit in seinem Leben: „Ich möchte etwas bewegen für die Gesellschaft und die Zukunft“, sagt er.

Auch Kristian Brakel, 32, der ununterbrochen SMS in sein iPhone tippt, war lange hochschulpolitisch aktiv, während er Islamwissenschaft und Entwicklungspolitik studierte. „Bei einem Job in Palästina habe ich mich über die deutsche Außenpolitik zum Nahen Osten geärgert.“ Nach seinem Eintritt vor neun Monaten, freut er sich, dass die Grünen aktuell an einer neuen Nahostpolitik schreiben.

Die 29-jährige Deniz Yildirim, wurde immer von ihren Freunden gefragt, warum sich Migranten nicht integrieren möchten. Vor einem halben Jahr reichte es ihr und sie trat den Grünen bei: „Das soll auch ein Signal sein für andere Menschen mit Migrationshintergrund“, sagt die Soziologie-Studentin, die seit zwei Jahren in Kreuzberg wohnt. Ihre ältere Schwester ist Doktorandin, ihr älterer Bruder Zahnarzt und der jüngere macht gerade sein Diplom in Psychologie: „Meine Familie ist ein Symbol für eine erfolgreiche Integration.“

Gülten Alagöz, 30, wählt grün, seitdem sie wählen kann. Vor zwei Jahren hat sie ihr Lehramtstudium abgeschlossen und ist seit zwei Monaten Grünen-Mitglied: „Alle suchen immer nach Menschen mit Migrationshintergrund. Ich bin ausgebildet und warte immer noch auf mein Referendariat.“

Burkhart hat schon zu Tschernobyl-Zeiten gegen Atompolitik demonstriert. Damals war seine Frau im 5. Monat schwanger und er wütend: „Das kam jetzt alles wieder hoch“, sagt er und führte zu seinem Beitritt. Hans-Werner, der jahrelang Schwulenpolitik in Köln gemacht hat, ist im Januar zu den Grünen gekommen: „Bei der Diskussion um Soziales und Grundsicherung kriege ich das Kotzen.“ Alle sitzen in Zweier- und Dreier-Grüppchen zusammen und tauschen sich aus. „Wir machen den Stammtisch, damit die Neumitglieder sich wohl fühlen“, hatte Heidi Kosche zu Anfang gesagt. Das hat wohl gereicht.

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