In Plastik eingeschweißte Hoffnung

Safeta sucht Arbeit, sonst droht ihr und ihrer Tochter die Abschiebung. In Bosnien wären sie fremd und diskriminiert – als Roma und weil Samantas Vater Serbe ist. Ein Leben auf Abruf

Safeta kniet auf dem weißen Wohnzimmerteppich und blättert durch eine Plastikmappe. Das kleine Wohnzimmer ist hell und freundlich. Staub oder Krümel wird man selbst unter dem Sofa nicht finden, und die Falten der transparenten Vorhänge sind so gleichmäßig drapiert, als würde ein Fotoshooting für ein Einrichtungsmagazin bevorstehen. Nur die aus der Verankerung gerissenen Schubladengriffe verraten, dass ihre Qualität nicht einmal dem Alltagsgebrauch standhielt. In der Plastikmappe hat Safeta ihre Schulabschlüsse, Bescheinigungen über Deutschkurse und eine Weiterbildung als Erziehungshelferin in Folien sortiert. Der Ordner ist ihr wertvollster Besitz. Er soll die 34-jährige Mutter sowie ihre 14-jährige Tochter Samanta davor bewahren, in das Land zurückgeschickt zu werden, das Safeta voll Schrecken verlassen hat und in das Samanta nicht will.

Safeta wurde in Bosnien geboren. Sie ist eine muslimische Romni. Weil sie Roma sind, wurde ihre in Tuzla ansässige Familie diskriminiert – sie flohen 1995 nach Deutschland. Während der Balkankriege zwischen 1990 bis 2000 sind schätzungsweise mehrere zehntausend Roma aus Exjugoslawien nach Westeuropa geflüchtet. 30.000 von ihnen leben nach UN-Angaben in Deutschland – allerdings nur geduldet, immer mit der Angst, abgeschoben zu werden. Das betrifft insbesondere Roma aus Bosnien-Herzegowina, da es seit 1996 ein Rücknahmeabkommen gibt. Darüber hinaus plant die Bundesregierung die Rückführung von 10.000 Roma in das Kosovo, darunter 5.000 Kinder. Etwa zwei Drittel von ihnen sind in Deutschland geboren.

Safeta kam 1995 nach Deutschland. Damals dauerte der Bürgerkrieg schon drei Jahre, die Situation in Tuzla wurde immer brenzliger. Die muslimischen Nachbarn beschimpften und bedrohten Safetas Familie. „Sie sagten, das ist nicht euer Land, ihr könnt hier nicht leben“, erinnert sich Safeta. Und fragt: „Aber wo sollen wir denn leben? Wir haben ja kein Land.“ Die drei verbliebenen Roma-Familien verschanzten sich gemeinsam in dem Haus in Tuzla. Nachts wachte einer der Erwachsenen an der Tür. Manchmal flogen Steine gegen die Fenster und auf das Dach. Irgendwann kamen bosnische Soldaten, sie wollten, dass Safetas Bruder als Soldat das Land verteidigt. Weil er sich weigerte, kam er ins Gefängnis. Als nach zwei Monaten eine serbische Granate in das Gefängnis einschlug, konnten die Gefangenen fliehen. Zwei Tage später verließ die Familie Bosnien. Sie brauchte fünf Monate, um nach Berlin zu kommen, mit dem Bus, per Autostopp, zu Fuß. Sie schliefen neben der Straße, in Ställen, im Wald. In Berlin erhielten sie eine Duldung für drei Monate. Danach hangelten sie sich von Verlängerung zu Verlängerung. Kettenduldung.

In Berlin lernte Safeta einen serbischen Rom kennen. Ein paar Monate später heirateten sie, Safeta bekam eine Aufenthaltserlaubnis. Das Paar zog in eine Wohnung am Ostkreuz, und eigentlich sah alles so aus, als würde es jetzt gut werden. Ein paar Monate später kam Samanta zur Welt. Samanta hat einen bosnischen Pass, aber einen serbischen Familiennamen. Die Ehe zerbrach, und erst als Safeta mit Samanta erstmals nach der Trennung nach Bosnien reiste, um ihre kranke Mutter zu besuchen, wurde ihr die problematische Situation bewusst. An der Grenze holten sie bosnische Soldaten aus dem Bus: „Wo hast du das Kind geklaut?“ fragten sie. „Du bist aus Bosnien, und das Kind hat einen serbischen Namen.“ Zwei Tage ließen sie Safeta an der Grenze warten, dann erst durfte sie auf eigenes Risiko nach Tuzla reisen. „Dort versteckte ich den Pass meiner Tochter, und wir blieben nur im Haus.“ In Deutschland zurück, versuchte sie den Namen ihrer Tochter zu ändern. Vergeblich, weil sich ihr Exmann weigerte.

Samanta ist jetzt 14 Jahre alt. Wie ihre Mutter legt sie Wert auf sorgfältig gezupfte und nachgezeichnete Augenbrauen. Sie geht in die Röntgen-Schule, eine dreizügige Realschule in Berlin-Neukölln, 83 Prozent der Schüler dort haben einen Migrationshintergrund. Sie spricht Deutsch und versteht weder Bosnisch noch Romanes, die Sprache der Roma. Wenn sie mit ihrer Großmutter in Tuzla telefoniert, muss Safeta ihr übersetzen. Bosnien ist ein fremdes Land für sie, wo sie Angst hat, dass jemand sie nach dem Nachnamen fragt.

„In meiner Schule achtet die Lehrerin sehr darauf, dass Nationalitäten keine Rolle spielen“, erzählt Samanta. Diese Toleranz ist auch ihrer Mutter wichtig – bei Nationalität wie Religion. Safeta und Samanta sind Muslime, aber nicht streng gläubig. Vorrangig verstehen sie sich als Roma. Zwar feiern sie das höchste islamische Fest Bayram, besuchen aber nicht die Moschee. Auf einer Elternversammlung sagte Safeta zu den anderen Müttern: „Wenn meiner Tochter Schweinefleisch schmeckt, soll sie es essen.“

Samanta jobbt nebenbei als Näherin und will später einmal als Bürokraft arbeiten. Dass sie Deutschland jemals verlassen muss, kann sie sich nicht vorstellen. „In Bosnien haben wir keine Zukunft. Dort stehen die Roma auf der untersten gesellschaftlichen Stufe. Sie können nicht in die Schule gehen und bekommen keine Arbeit. Meine Tante hat eine Ausbildung als Krankenschwester, aber findet keine Arbeit.“

Im Februar 2011 läuft Safetas befristete Aufenthaltsgenehmigung ab. Ihr Aufenthaltsrecht ist abhängig davon, ob sie Arbeit hat und ihren Lebensunterhalt bestreiten kann. Nach einem Deutschkurs und einer schulischen Weiterbildung als Erziehungshelferin arbeitete sie als Reinigungskraft und in mehreren Kindergärten als Erziehungshelferin, für 1,50 Euro pro Stunde oder auch ganz umsonst während eines Praktikums von drei Monaten. Doch kein Kindergarten hat sie länger angestellt. Mutter und Tochter leben von Hartz IV, 550 Euro müssen sie allein für Miete und Strom zahlen.

Safetas Anwalt Alain Lingnau hat ihre Bemühungen verfolgt: „Da habe ich einen gewissen Respekt. Seitdem sie eine Arbeitserlaubnis hatte, hat sie immer etwas gemacht. Sie bemüht sich die ganze Zeit.“ Unter der Kettenduldung in der Anfangszeit durfte Safeta nicht arbeiten. Eine mögliche Abschiebung sieht der Anwalt negativ: „Politisch kann ich das nicht nachvollziehen, schon wegen der Tochter: Wir werden hier in ein paar Jahren Fachkräftemangel haben. Aber auch menschlich kann ich das nicht verstehen. Die Tochter ist ja faktisch Inländerin.“

Der Platz vor dem grauen Mietshaus, in dem Safeta und Samanta wohnen, ist nicht asphaltiert, die Autos parken im festgetretenen Schlamm. Es sind ohnehin nur ein paar wenige. Auf dem Bordstein davor steht ein ausrangierter Plastikledersessel. Eine Straße in Neukölln, an der sich ein Wohnblock an den anderen reiht. Was in den Augen anderer vielleicht trist erscheinen würde, ist für die beiden das Glück, das sie nicht mehr hergeben wollen. Sie wohnen im Hochparterre. Kein Foto hängt an der Wand. Kein Bild. „Ich habe keine Fotos aus Tuzla, ich möchte nicht an diese Zeit erinnert werden. Mit meiner Heimatstadt habe ich nur schlechte Erfahrungen gemacht.“ Safeta hat noch eine letzte Möglichkeit, bis zum 15. Dezember eine Arbeitsstelle nachzuweisen, damit sie und Samanta nicht abgeschoben werden. Die Jugendselbsthilfeorganisation von Roma und Nichtroma, Amaro Drom, möchte ihr eine Stelle als Erziehungshelferin für Roma-Kinder vermitteln. Vorsichtig schiebt Safeta die Papiere wieder in die Plastikfolien. Sie sind ihre letzte Chance, damit ihre Tochter nicht in einem Land leben muss, das in ihrem Namen den Feind sieht.

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