Leben mit der Angst im Nacken

Die Geschichte einer Illegalen

Es war noch dunkel. Esther* schreckte auf von dem Ruf, der durchs Haus hallte: „Polizei ist im Haus! Razzia!“ Kein Albtraum, sondern Realität und der Notfall, den sie schon einige Male mit ihren Mitbewohnern/innen durchgesprochen hatte. Sie wusste, sie musste schnell über eine Tür im Hausflur vom Vorderhaus in eine Wohnung des Seitenflügels. Im Schlafanzug rannte sie ins Treppenhaus, holte den Schlüssel aus dem Versteck und war gerade durch die Tür geschlüpft, als sie der zweite Schreck an diesem Morgen durchfuhr: Vor ihr stand eine schwarz vermummte Einheit des Sondereinsatz-Kommandos der Polizei (SEK): „Wer bist du? Wohnst du hier?“, flüsterte einer von ihnen durch den Mundschutz und hielt sie fest.

Ja, Esther wohnt seit einem Jahr in diesem Wohnprojekt. Doch wer ist sie? Sie ist illegal in Deutschland, geflohen aus der Armut in Bolivien und in der Hoffnung, hier ein besseres Leben zu haben. Sie hat aber weder einen Mietvertrag noch einen deutschen Pass oder einen Aufenthaltsstatus und steht in keinem Melderegister, darum dürfte sie eigentlich nach deutschem Recht gar nicht hier sein. Doch sie hatte Glück. Am Flughafen fragten die Polizisten sie nur, wie viel Geld sie dabei habe. Sie hatte eine Einladung, ohne die sie nicht hätte nach Europa kommen dürfen, und 100 Dollar. „Dann sagten sie, ich könnte gehen. Ich konnte es fast nicht glauben“, die 31-Jährige klingt immer noch aufgeregt und strahlt dabei.

Heimliches Leben

In Deutschland angekommen, ging Esther nach Berlin. Dort hatte sie Bekannte, die sie mitnahmen zu einem Treffen: „Comida“ – das heißt Essen und für Esther hieß das Austausch mit anderen, die in einer ähnlichen Situation sind, und Solidarität – etwas, das viele andere Illegale in Deutschland missen in ihrer selbst gewählten Einsamkeit und Anonymität, aus Angst davor entdeckt zu werden. Esther traf Menschen, die ihr halfen. Einmal in der Woche treffen sich Illegale und legalisierte Migranten/innen dort, kochen und essen zusammen und helfen sich vor allem gegenseitig bei alltäglichen Problemen.

Eine Frau vermittelte sie an eine Freundin, bei der sie Putzen konnte für sechs Euro pro Stunde. Bald bekam sie eine zweite Putzstelle, einen Job als Babysitterin und als Spanisch-Nachhilfelehrerin – alles schwarz natürlich. Weil Menschen ohne Arbeitserlaubnis abhängig und erpressbar sind, fordern linksalternative Initiativen wie zum Beispiel das europäische Netzwerk respect, dass schwarz Beschäftigte sich anonym wehren können gegen das Unterschlagen oder Dumping ihres Lohnes.

Der Kreis von Gleichgesinnten bei den wöchentlichen Treffs von „Comida“ vermittelte Esther an ein Wohnprojekt. Dort fand sie Freunde und lernte Deutsch. Schließlich lernte sie darüber auch Eike kennen, der sie heiratete – nicht aus Liebe, sondern aus Solidarität. Scheinehe nennt das die deutsche Rechtssprechung und verfolgt diese Praxis strafrechtlich. Obwohl Eike damit ein großes Risiko eingeht, bemerkt er sehr nüchtern: „Ich mache das aus Solidarität, um Privilegien umzuverteilen. So ist das zwar nicht sehr politisch, weil ich damit nicht vielen helfen kann, sondern nur einer Person. Aber für die ist es eine Chance auf ein besseres Leben.“ Schwierig findet er, dass so genannte Scheinehen kriminalisiert würden und es dabei zu Befragungen in der Nachbarschaft und Kontrollen komme. „Viele schließen eine Ehe aus anderen Gründen, als es der heilige Bund der Ehe vorsieht, zum Beispiel aus Steuererleichterung, und müssen nicht mit Repressionen rechnen“, sagt er. Er und Esther leben jeden Tag mit der Angst, überführt zu werden.

Über diese individuelle Hilfe hinaus findet es Eike wichtig, Strukturen zu etablieren, die Illegalen helfen können. Eine medizinische Flüchtlingshilfe vermittelt kostenlose und anonyme medizinische Behandlung für Menschen ohne Papiere. Außerdem gibt es neben juristischen, sozialen und psychotherapeutischen Hilfen auch ehrenamtliche Begleiter/innen, die Flüchtlinge bei Terminen bei Behörden und Botschaften unterstützen. Eine ganz konkrete Hilfe schuf eine Gruppe in Hamburg mit einem Stadtführer samt Übersicht über das Beratungsangebot für Flüchtlinge in fünf Sprachen. Davon wurden knapp 5.000 Exemplare kostenlos verteilt.

Die Angst eines Morgens

Nach ihrer Heirat bekam Esther eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre. Innerhalb dieser Zeit muss sie einen Integrationskurs besuchen, um dann eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten. In ihrem 12-qm²-Zimmer hängen überall kleine Zettel mit deutschen Vokabeln: an dem Fenster „habe auf-/zu gemacht“ und an der Tür eine Konjugationstabelle. Sie weiß, dass fließend Deutsch zu sprechen eine der Bedingungen ist, um hier eine Chance zu haben.

Als Esther den festen Griff des SEK-Beamten um ihren Arm spürte, war es, als greife ihr altes Leben in Bolivien nach ihr: „Ich dachte die ganze Zeit nur, das ist mein Schicksal, ich muss zurück nach Bolivien“, sagt sie. Ihre Hände wurden auf dem Rücken gefesselt. Immer wieder kam die Frage: „Wer bist du? Wohnst du hier?“, unter der Esther sich wegduckte, aber kein Wort sagte. Irgendwann kamen ihre Mitbewohner/innen dazu und sagten den Beamten, dass Ether mit ihnen im Vorderhaus wohne und nicht im Seitenflügel, in dem die Razzia wegen Drogenbesitzes stattfand. Irgendwann nach Ewigkeiten, wie es sich in Esthers Erinnerung eingebrannt hat, ließen sie sie wieder gehen. „Ich hatte so viel Glück“, sagt sie, aber die Angst von diesem Morgen spürt sie immer noch. *Alle Namen von der Autorin geändert

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